GOING POSTAL – GOING NEXT

Die Zukunft des Organisierens aus einem Parallel-Universum: Terry Pratchetts Roman “Going Postal” macht möglich, was uns oft unmöglich erscheint: Aus einem hierarchischen Unternehmen wie dem Postsystem eine agile Organisation zu formen. Doch vielleicht ist das ja gar nicht so utopisch? Ein FORBES "UTOPIA"-Beitrag von dwarfs and Giants.

  • 21. August 2017
    Lesezeit 6 Minuten

Nichts geht mehr im Postamt von Ankh-Morpork, der größten Stadt der Scheibenwelt. Dem fantastischen Paralleluniversum unserer realen Welt, erfunden von Sir Terry Pratchett. Eine Welt der Magie und der extremen Gegensätze.

Etagenhoch türmen sich die nicht ausgelieferten Briefe in den verfallenen Räumen und einst strahlenden Hallen dienstleistender Produktivität. Die letzten, mittlerweile steinalten und schrulligen MitarbeiterInnen halten sich sklavisch an ehemals gültige Routinen, ohne irgendeinen Sinn und Effekt. Gleichzeitig wächst die digitale Konkurrenz: Die „Clacks“, das Semaphoren-System der Grand Trunk Company, versprechen, Nachrichten viel schneller zu versenden, bis in den letzten Winkel dieser skurilen Welt.

In diese aussichtslose Situation wird Moist von Lipwig geworfen, ein gerade dem Tod durch den Strang entkommener Gauner und Trickbetrüger. Beauftragt vom Patrizier der Stadt, Lord Vetinari, besteht seine einzige Chance weiterzuleben darin, das veraltete Post-System mit allen Mitteln wieder zum Erfolg zu führen. Und alles, was dieser Held, der keiner sein will, in der Folge tun wird, ist geeignet, die Geschichte dessen, was wir gewöhnlich unter Change-Leadership und funktionierender Digital Innovation bisheriger Organisationen in unserer Welt verstehen, auf den Kopf zu stellen...

An dieser Stelle ist kein Raum, die ganze Geschichte zu erzählen. Umso mehr für die dringende Empfehlung, sie zu lesen. Eher als die meisten Management Bücher. Denn es kann sich lohnen, mit Büchern wie „Going Postal“ (deutsch: „Ab die Post“) von Terry Pratchett gleich in parallele Universen zu wechseln, wenn es um ein utopisches Beispiel einer „future of organizing“ geht – die vielleicht gar nicht mehr so utopisch ist… 
 

1 Prototype! Experiment! Be Agile!
2 Navigate with purpose!
3 Distribute authority!

So lauten die drei zentralen Prinzipien, mit denen Moist von Lipwig das scheinbar aussichtslose Spiel letztlich gewinnt. Und all das hat mehr mit unserer „realen“ Welt zu tun, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Always move fast. You never know what´s catching you up.

Moist von Lipwig

Forget about planning! Start from where you are! Die Umwelt, in die Moist geworfen wird, ist und bleibt chaotisch, dynamisch, unberechenbar: „What a place! What a situation!“ In der Folge denkt Moist erst gar nicht über langfristige Pläne nach und entwickelt keine Strategie. Anders als in konventionellen Management-Ansätzen braucht er keine Marktanalysen und Szenario-Planung. Er sagt offen, dass er keinen Plan hat: „I don´t know what‘s happening here, but I don´t know anything about delivering post!“. Stattdessen läuft er einfach los. 

Was er schafft, ist, die Post-Organisation durch permanentes Experimentieren und Ausprobieren in Bewegung zu bringen und neue, andere Erfahrungen machen zu lassen, die mit eingefahrenen Mustern brechen. Um das Risiko zu begrenzen und schnell auf Feedback von Usern reagieren zu können, werden diese Experimente step by step gestaltet – immer den „next workable step“ vor Augen.
 

Let´s get the mail moving again and we can work things out as we go along. I‘m sure ideas will occur.

Moist von Lipwig

Dafür bewegt sich Moist viel auf den Straßen von Ankh-Morpork – und beobachtet und fragt die Menschen (und andere Scheibenweltbewohner), was sie von seinen neuen Ideen halten und was sie sich von einem Post-System wünschen würden. Er geht zu Kunden, Zulieferern, Politikern und auch zu seinen Feinden. Und folgt dabei keinen Ideologien und vorgefertigten Lösungen. Sondern reagiert auf das, was ist: der Realität

Man könnte meinen, Moist von Lipwig wäre das Vorbild für Eric Ries gewesen, als er den Management-Bestseller „The Lean Startup“ schrieb: Auch für Ries geht es statt umfangreicher (Vorab-)Planung um das unmittelbare Feedback auf Hypothesen und erste Prototypen durch User und Stakeholder als Ausgangspunkt für die nächsten konkreten Schritte. Denn durch dieses iterative und inkrementelle Vorgehen entsteht schnell Klarheit über die weitere Gestaltung der innovativen Ideen.

Moists Haltung ist nicht die der Perfektion, sondern ein „accepting constant imperfection“. Es geht niemals um die eine große, „richtige“ Entscheidung, sondern um viele, schnelle, klare Entscheidungen. Was funktioniert – was nicht? Um so die Organisation in immer nächsten Schritten ins unbekannte Neue zu führen. 

Fehler, Scheitern, Katastrophen sind für Moist kein Versagen, sondern Ansporn und Gelegenheit zu lernen. Gerade ist er dabei, mit Hilfe seiner Gefährten das Postamt auf Vordermann zu bringen, wird es ihm von der Konkurrenz angezündet und brennt ab. Permanent legen ihm eine Vielzahl von Feinden Steine in den Weg und bedrohen sogar sein Leben... Doch immer findet er neue Lösungen – mit anderen in Kooperation. Was er durch sein Tun, durch das Forcieren von Ausprobieren und schnellem agilem Reagieren und raschem Lernen im Postamt erschafft, ist eine „Innovation culture“: Fail fast – learn fast!

Bei allen Menschen (und anderen Scheibenweltbewohnern!) knackt Moist ihr eingefahrenes Denken. Ganz nach dem Motto von Malcolm Gladwell: „If everyone has to think outside the box, maybe it is the box that needs fixing.“ Oder wie Moist selbst es sagt: 

Never promise to do the possible. Anyone could do the possible. You should promise to do the impossible, because sometimes the impossible was possible, if you could find the right way, and at least you could often extend the limits of the possible. And if you failed, well, it had been impossible.

Moist von Lipwig

Er greift nach den Sternen – und inspiriert andere. Sein Ziel ist kein besseres Postsystem für die Stadt Ankh-Morpork. Sondern ein scheibenweltweiter Postdienst – besser und zuverlässiger als die Clacks. Und das so schnell es geht! Viel schneller, als es die Erfahrung anderer möglich erscheinen lässt. Denn während Junior Post Officer Groats Bedenken zur Leistungsfähigkeit des Personals äußert: „But we´ve only got a bunch of old man, sir! (..) You´ve got to learn to walk before you try to run, sir!“ – schlägt Moist mit der Faust auf den Tisch und entgegnet: „Never say that, Tolliver! Never! Run before you walk! Fly before you crawl! Keep moving forward!“

Navigate with purpose!

Geld interessiert Moist – sehr. Aber nicht um des Geldes selbst willen. Und erst recht nicht als Mittel zur persönlichen Machtsteigerung. Geld zu gewinnen, ist ein Spiel – ein Mittel zum Zweck. Nicht um aufgehäuft zu werden, sondern, um ins Spiel zu kommen und zu bleiben. 

Statt dem Streben nach Reichtum sucht Moist nach einer Antwort der Post-Organisation auf die Frage: Was wollen wir in die Welt bringen? Wofür wollen wir unsere Energie einsetzen? Und was will die Welt von uns? 

Der Daseinszweck und zentrale Bezugspunkt – der Purpose – entsteht dabei aus der Beobachtung der Briefe, der Aufgabe selbst – like magic! Sie, die vielen unausgetragenen Briefe selbst, fordern lautstark von ihm: 

Deliver us!

unzugestellte Briefe von Ankh-Morpork

Moist schwört alle auf den sich wieder gezeigten Purpose ein: „The mail must move!“ Diese Klarheit über den Daseinszweck der eigenen Organisation schafft einen größeren gemeinsamen Sinnzusammenhang für die Mitarbeiter und zieht Kunden, Partner und unzählige Talente an. Dabei wahrt Moist die Identität der Organisation. Er bewahrt Altes, das gut ist. Und gestaltet dort Neues, was unter den neuen Umständen besser funktioniert. Im ständigen gemeinsamen Dialog.

Distribute authority!

Moist will kein Superheld und kein allmächtiger Chef sein, mit Macht und Untergebenen. Er trägt zwar einen geflügelten goldenen Hut und einen goldenen Anzug. Aber nur aus einem Grund: „You have to give people a show!“Im Hintergrund lehnt Moist die Führungsrolle bewusst ab. Ebenso Hierarchien und jede Form der Vorgabe und Kontrolle. Im Kern steht bei seinem Vorgehen verteilte Autorität und Selbstermächtigung. Kurz: Er vertraut und traut den Menschen zu, Aufgaben selbst zu ergreifen und in einer gemeinsamen Bewegung bestmöglich voranzubringen. 

Er gestaltet die Entscheidungsprozesse der Organisation so, dass möglichst viele verschiedene Perspektiven integriert werden und die Entscheidungsautorität dahin verlagert wird, wo das Know-How und die Kompetenz zur Entscheidungsfindung liegt – bei den Menschen, die ihr jeweiliges Geschäft verstehen. Er lässt damit natürliche Hierarchien entstehen – geleitet nicht durch Machtzuteilung, Ego-Games und persönliche Beziehungen, sondern durch den jeweiligen Beitrag, den Purpose der Organisation zu erfüllen. Mit klaren Rollen und Entscheidungsbefugnissen, in denen Ownership und Unternehmergeist zur Wirkung kommen können, um zu etwas beizutragen, was größer ist als nur man selbst… 

Und Moist hat – eines seiner wichtigsten Führungstalente – ein unglaubliches Händchen dafür, die Menschen zu finden, die Verantwortung ergreifen und ihre Talente einsetzen wollen. Er beschäftigt jeden von denen, die diese Welt bevölkern: Menschen, Trolle, Zwerge, Hexen und Vampire. In größtmöglicher Vielfalt. Wenn sie bereit sind, dem Purpose zu dienen. Und jeder wird dazu aufgefordert, seine spezifische Sichtweise, Wahrnehmung und Eigenarten für die Organisation einzubringen.

Es geht Moist darum, Mitstreiter für die neue Kultur zu finden und ein Movement für die neue kulturelle DNA der Organisation zu schaffen. Die Mitarbeiter der Post übernehmen Verantwortung und arbeiten sowohl IN der Organisation als auch AN der Organisation. Sie experimentieren sich in die Zukunft. Die Veränderung des Postamtes ist keine Top-Down Veranstaltung, sondern es wird an vielen Ecken und Enden begonnen, die gewünschte Kultur und innovativen Lösungen zu erschaffen.

Geschichten über eine Welt, die nicht mehr planbar, linear und vorhersehbar ist

Das Wichtigste, was wir aus Geschichten über andere Welten und andere Formen der Organisation lernen können, ist die Tatsache, dass wir uns über unsere Welt und unsere Formen der Organisation letztlich nur Geschichten erzählen. Und nicht nur erzählen – sondern leben! Und weil wir schon so lange und so fest verwoben in diesen Geschichten leben, halten wir sie für die Wirklichkeit. Und kommen gar nicht auf die Idee, dass wir unsere Wirklichkeit ganz einfach verändern können, wenn wir uns andere Geschichten über sie erzählen. Und nicht nur erzählen, sondern leben.

Was Terry Pratchett in der Geschichte von Moist von Lipwig im Paralleluniversum der Scheibenwelt Wirklichkeit werden lässt, ist nichts anderes als die Zukunft des Organisierens für unsere Welt neu zu schreiben. Und wie so oft sind solche fantastischen Utopien viel näher an Wirklichkeit, als wir uns vorstellen können.

Viele UnternehmenslenkerInnen und MitarbeiterInnen in unserer Welt haben bereits verstanden, dass durch eine pyramidenartige Hierarchie geprägten Strukturen zu starr sind um die Herausforderungen der VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) zu meistern. Und dass unsere herkömmlichen Kommunikations- und Entscheidungswege zu träge und langsam sind, um mit der nötigen Flexibilität auf die zahllosen Veränderungen zu reagieren und die erforderliche Innovationskraft und -geschwindigkeit zu entfalten.

Es braucht nur noch den Mut, selbst neue Geschichten zu erzählen: Geschichten über Organisationen jenseits der Hierarchie, über Organisationsziele jenseits der Profitmaximierung, Geschichten über die Zusammenarbeit von Menschen jenseits des Modus von Vorgabe und Kontrolle, die sich in turbulenten und komplexen Verhältnissen schnell und jederzeit verändern können. In Welten, die nicht planbar, linear und in ihren Entwicklungen vorhersehbar sind – so, wie es unsere bereits ist. 

Dieser Text von Gerhard Hochreiter und Johannes Wiek ist in FORBES Online mit dem Ausgabenschwerpunkt "UTOPIA" im August 2017 erschienen.

Mehr erfahren

Kapitelübersicht