Führung in Zeiten der Paradoxien
Maria Noi
Wir leben in einer Welt, die immer schneller, unübersichtlicher und widersprüchlicher wird. Das löst einen zutiefst menschlichen Reflex aus: Die Sehnsucht nach Einfachheit, klaren Antworten, eindeutigen Urteilen.
Wer hat recht?
Was ist „das Richtige“?
Welche Entscheidung führt uns sicher weiter?
Welche Narrative Organisationen prägen
Um dieser Überforderung zu begegnen, greifen wir auf zwei mächtige Geschichten zurück, die unsere Kultur seit Jahrhunderten prägen:
Was in frühen Stammesgesellschaften noch ein pragmatisches System von „förderlich“ und „schädlich“ war, wurde mit Sesshaftigkeit und Hierarchien zu einem Instrument sozialer Kontrolle. Gut und Böse schufen Ordnung und Identität, aber auch Ausschluss. Bis heute bietet diese Dualität psychologische Sicherheit: Sie reduziert Komplexität, schafft Zugehörigkeit, suggeriert Klarheit. Doch sie trennt, wo Verbindung nötig wäre.
Mit „Cogito ergo sum“ wird der Mensch zum Zentrum seiner eigenen Realität - und die Welt zum Objekt, das analysiert, berechnet, optimiert werden kann. Dieses mechanistische Weltbild durchzieht bis heute unser Denken: Natur, Körper, Gesellschaft und Organisationen erscheinen als Maschinen, die man steuern kann. Die Folgen sehen wir in unseren globalen Krisen deutlicher denn je.
Diese Denklogik spiegelt sich direkt in unserem Organisationsverständnis wider. Wir sprechen von Stellhebeln, Wachstumsmotoren, Fehlerbehebung, Fronten, Schlachtplänen. Folglich tun wir so, als wären Unternehmen komplizierte Maschinen, die man nur richtig konfigurieren müsste.
Maschinenlogik nährt das Bedürfnis nach Eindeutigkeit.
Doch Organisationen sind keine Uhren, die man auseinandernehmen und korrekt zusammensetzen kann. Sie sind komplexe soziale Systeme: unvorhersehbar, dynamisch, voller Wechselwirkungen, die sich nicht kontrollieren lassen.
Wer Zukunft gestalten will, braucht deshalb neue Geschichten:
- … Geschichten, die Verbundenheit statt Trennung betonen.
- … die Organisation nicht als Maschine, sondern als Organismus begreifen.
- … die mit Bildern wie Ökosystem, Wurzeln, Entwicklungsimpulsen, Netzwerken, Zyklen, Lebendigkeit und Emergenz arbeiten.
- … die anerkennen, dass Lernen, Selbstorganisation und Resilienz Grundlagen für Wandel sind – nicht Nebenprodukte.
Zukunftsfähigkeit entsteht nicht durch das Auflösen von Spannungen, sondern durch die Fähigkeit, sie zu halten – und die Energie zu erkennen, die in ihnen steckt. Paradoxien sind nicht lösbar – sie gehören zur Natur lebendiger Systeme.
Navigieren in Komplexität
Um in Komplexität und Unberechenbarkeit handlungsfähig zu bleiben, braucht es eine bewusste Praxis jenseits der Entweder-oder-Reflexe.
The test of a first-rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas in mind at the same time and still retain the ability to function.
F. Scott Fitzgerald
Ein erster Schritt besteht darin, Spannungen nicht als Fehler, sondern als wertvolle Informationsquelle zu betrachten:
- Was macht dieses Spannungsfeld mit uns als Menschen in Verantwortung?
- Wie zeigt es sich in unseren Organisationen?
- Und was braucht es, um nicht in Überforderung oder Zynismus zu kippen – sondern handlungsfähig zu bleiben?
- Woran merke ich, dass ich es noch nicht voll akzeptiert habe?
Die Kunst besteht weniger darin, diese Gegensätze zu „lösen“, sondern darin, sie bewusst zu differenzieren, bevor man sie integriert. Erst wenn Unterschiede sichtbar werden, können wir entscheiden, wie wir mit ihnen arbeiten. Und nicht zuletzt die eigene Sprache zu beobachten: Wo reproduzieren wir Maschinendenken? Wo sprechen wir von „Hebeln“, „Fehlern“ oder „Ressourcen“ - und wo beginnen wir, organische Bilder zu wählen, die Lebendigkeit, Zyklen und Entwicklung erlauben?
Führung in komplexen Systemen heißt, sich immer wieder bewusst in die sowohl–als–auch-Haltung hineinzuüben und Reflexe zu erkennen, die uns zurück in Eindeutigkeit ziehen wollen. Wer das kultiviert, stärkt nicht nur die eigene Navigationsfähigkeit, sondern auch die Zukunftsfähigkeit der gesamten Organisation.
Arbeit mit Paradoxien
Es gibt zentrale ökonomische Paradoxien, die unser Wirtschaftssystem und Führungsrealitäten prägen. Sie zeigen, wie scheinbar rationale Strategien langfristig Dysfunktion erzeugen. Diese Paradoxien sind kein Fehler, sondern Signaturen lebender Systeme.
Für Organisationen und Führungskräfte kann es hilfreich sein, die zentralen Paradoxien unseres Wirtschaftssystems zu verstehen und wie sie sich in der eigenen Organisation manifestieren. Wir haben zur Reflexion konkreter Auswirkungen dieser Dynamiken einige relevante Spannungsfelder zusammengefasst:
- Allmende-Tragödie: Kurzfristiges Eigeninteresse <> langfristiges Gemeinwohl
- Effizienz-Resilienz-Dilemma: Effizienz <> Resilienz
- Fortschritts-Dilemma: Innovation <> Integration
- Gefangenen-Dilemma: Individueller Vorteil <> Kollektiver Nutzen
- Governance-Dilemma: Zentrale Kontrolle <> Lokale Selbstverantwortung
- Mess-Paradoxon: Messbarkeit <> Wirkung
Als Beispiel steht hier das Arbeitsmaterial zur Allmende-Tragödie als Download zur Verfügung:
Die Allmende-Tragödie zeigt das Spannungsfeld zwischen kurzfristigem Eigeninteresse und langfristigem Gemeinwohl. Gemeinsame Ressourcen werden übernutzt, weil der individuelle Nutzen unmittelbar – die kollektiven Kosten aber verzögert spürbar sind. Dieses Dilemma betrifft nicht nur ökologische, sondern auch soziale und organisationale Ressourcen. Niemand fühlt sich verantwortlich für das, was allen gehört. Dadurch droht eine Übernutzung gemeinsamer Ressourcen, die letztlich allen schadet.
Wenn du eine gute Frage hast,
verdirb sie nicht durch eine zu schnelle Antwort.
In einer Welt, die Geschwindigkeit mit Kompetenz verwechselt und Eindeutigkeit mit Stärke, ist dieser Satz eine Einladung zu Entschleunigung und Präsenz.
Zukunftsfähigkeit entsteht nicht durch schnelleres Denken, sondern durch bewussteres Handeln. Nicht durch die Jagd nach Eindeutigkeit, sondern durch das Halten von Spannungen, in denen Neues entstehen kann. Nicht durch das Reparieren von Widersprüchen, sondern durch die Fähigkeit, mit ihnen zu arbeiten.
Dieser Impuls sowie die Arbeit an Dilemmata war Teil des Top-Leadership-Dialogs ZUKUNFT IST KEIN ZUFALL am 13. & 14. November 2025 im k47.wien. Zwei Tage Inspiration für’s Denken und Handeln: Über Organisationen als Wirkungsräume, Transformation als Daueraufgabe sowie Geschichten von Menschen, die Veränderung gestalten.
Wenn du an solchen Dialog-Formaten interessiert bist, melde dich gerne bei uns! Wir informieren dich dann über die nächsten Termine: events [at] dwarfsandgiants.org (events[at]dwarfsandgiants[dot]org)


